Menschen im Fadenkreuz

„Unsere Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein.  Ihr Tod muss das Ende rassistischer Angriffe sein“ – Serpil Temiz Unvar

SPD-Landtagsfraktion – Christina Schäfer

Am 19. Februar 2020 sind in Ha­nau neun Menschen von einem Rechtsextremisten getötet worden. Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Ne­sar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov wurden Opfer eines gezielten rassistischen Angriffs. Der Hass trifft sie völlig unvorbereitet. Nie zuvor lebten sie in dem Bewusstsein, Feind­bild zu sein. So geht es den meisten Opfern von rechtsextremistischen Taten. Das ge­meinsame Feindbild gibt Rechtsextremisten Zusammengehörigkeit und Sicherheit. Es teilt die Welt für sie in Schwarz und Weiß. Weiß sind sie. Schwarz sind alle Menschen aus dem Ausland, Juden, Muslime, LSBTIQ*, Flüchtlinge, ihre politischen Gegner und staatliche Behörden. Menschen, die ins Vi­sier der Rechten und Rassisten geraten, wer­den bedroht, angefeindet, terrorisiert und angegriffen. Sie werden körperlich wie see­lisch verletzt und meist zutiefst erschüttert. „Die Opfer werden aus dem Alltag gerissen, sind verletzt und verängstigt“, schreibt das Beratungsnetzwerk Hessen, das Opfer von rechtsextrem motivierter und rassistischer Gewalt berät und unterstützt.

Armin Kurtović hat seinen Sohn Hamza bei dem rassistischen Anschlag in Hanau verloren. Auf der nächsten Seite erzählt er von den Folgen des Anschlags. Eine Frau, die unerkannt bleiben möchte, erzählt von ihren Erfahrungen mit Rassismus im Alltag. Während der Recherche für dieses Magazin haben wir mit weiteren Opfern gesprochen. Doch sie trauten sich nicht, ihre Erfahrun­gen öffentlich zu machen, aus Angst vor neuen Angriffen von rechts.

Eine Abfrage unter den Abgeordneten unserer Landtagsfraktion hat zudem erge­ben, dass viele von ihnen bereits Erfahrun­gen mit Anfeindungen von Rechtsradikalen gemacht haben oder sie Politiker aus ihren Wahlkreisen kennen, die betroffen sind. Ei­nige berichten von Hasskommentaren auf ihren Social­Media­Kanälen, andere von Drohmails, auch offene und direkte Anfein­dungen und sogar Morddrohungen hat es gegeben.

Hass, Hetze und Gewalt durch Rechts­extremisten schüchtert Menschen ein, be­droht unsere Meinungsfreiheit und unsere Demokratie. „Wir wollen ein Land sein, in dem alle Menschen frei und ohne Angst le­ben. Ganz gleich in welchem Viertel sie le­ben, wen sie lieben, woran sie glauben oder woher ihre Familien einmal kamen“, sagt die hessische SPD­Vorsitzende Nancy Faeser in ihrer ersten Rede als Bundesinnenministe­rin vor dem Deutschen Bundestag. Sie erin­nert an die Worte von Serpil Temiz Unvar, deren Sohn Ferhat bei dem Anschlag in Ha­nau ermordet wurde: „Unsere Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein. Ihr Tod muss das Ende rassistischer Angriffe sein.“ Nancy Faeser verspricht, alles dafür zu tun, um die Menschen, die in Deutschland bedroht und angegriffen werden, besser zu schützen. Sie kündigt einen Aktionsplan gegen Rechtsex­tremismus an.

Gesprächsprotokoll – Armin Kurtović

Min Name ist Armin Kurtović, ich bin 1974 in Bayern zur Welt ge­kommen. Ich bin verheiratet und habe vier Kinder. Meine Kinder sind auch alle in Deutschland geboren. Am 19. Februar 2020 habe ich meinen 22 Jahre alten Sohn Hamza Kurtović bei dem rassistischen Anschlag in Hanau verloren.

Früher habe ich Rassismus im Alltag mit Humor genommen, ehrlich gesagt war mir das Jacke wie Hose. Jetzt nehme ich es mir zu Herzen. Ich kann das nicht mehr ignorieren – wegen des Anschlags, bei dem ich meinen Sohn verloren habe, und auch wie ich danach behandelt wurde. Ich bin deutscher Staatsbür­ger. Warum schickt man mir den Ausländer­beirat, einen Migrationsbeauftragten, einen Dolmetscher? Ist mein Deutsch so schlecht? Ich habe das früher immer aus der Ferne be­trachtet. Jetzt hat es mich voll erwischt. In einem Gespräch mit dem Ministerpräsiden­ten haben wir Angehörigen das Problem mit den rechtsextremen Polizisten angesprochen. Und wissen Sie, was er geantwortet hat? „Auch wenn Polizisten eine rechtsextreme Ge­sinnung haben, muss das ja noch lange nicht heißen, dass sie ihren Job schlecht machen.“

Diese Gesinnung  hat meinem Sohn das  Leben gekostet.

Wir haben unsere Angehörigen nicht bei einem Flugzeugabsturz oder bei einem Auto­unfall verloren. Diese Gesinnung hat meinem Sohn das Leben gekostet. Und dann sagt der Ministerpräsident unse­res Landes so etwas zu uns. Damit ist er Teil des Problems und nicht der Lösung. Auf der einen Seite heißt es immer, sie seien gegen rechts, sie seien gegen Rassismus und das dürfe es alles nicht geben. Aber wenn es aus der eigenen Mannschaft kommt, dann wird es totgeschwiegen. Vom Land Hessen kam nach dem Anschlag überhaupt keine Unterstützung. Niemand aus der Landesregierung hat sich mit uns Angehö­rigen getroffen. Dafür haben sich Bundesmi­nister Horst Seehofer und Bundesministerin Christine Lambrecht Zeit genommen für jede Familie. Sie haben uns einen Ansprechpart­ner gegeben, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Ich bin dankbar für jedes offene Ohr. Ich wollte aber auch den hessischen Innenminis­ter und den Ministerpräsidenten treffen und erzählen, was hier schiefgelaufen ist. Ich habe darum gebeten, ich habe gekämpft. Doch es ist nie zu Stande gekommen. Meine Anfragen wurden ignoriert. Sie schauen weg, verstecken sich, ziehen sich aus der Verantwortung. Doch bei neun Toten können sie sich nicht aus der Verantwortung ziehen. Seitdem es passiert ist, sehe ich es als meine bürgerliche Pflicht an, so lange auf den Missständen herumzureiten, bis sie behoben sind. Damit kein anderer Vater mehr sein Kind wegen rechter Gesinnung zu Grabe tragen muss.

Gesprächsprotokoll – Sevim

(Name von der Redaktion geändert), 31 Jahre alt, möchte ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Sie macht sich Sorgen, dass dadurch rassistische Anfeindungen gegen sie und ihre Familie zunehmen könnten.

Ich lebe in Marburg und habe die Stadt bislang immer als sehr weltoffen wahr­genommen. Doch seit einiger Zeit erlebe ich auch hier Rassismus im Alltag. Ich habe das Gefühl, dass Rassismus salonfähig wird.

Zum Beispiel vor ein paar Tagen im Super­markt an der Kasse – eine ältere Frau war beim Bezahlen sehr langsam. Sie trug ein Kopftuch. Der Mann hinter ihr hat plötzlich angefan­gen, laut und fies über sie und ihr Kopftuch zu reden. Er war aggressiv. Die Dame hat Angst bekommen. Ich konnte sehen, wie nervös sie war. Sie hat gezittert. Es standen noch andere Leute vor mir an der Kasse, aber niemand hat etwas gesagt, sie haben alle nur zugesehen. Ich habe hin und her überlegt, ob ich einschreiten sollte. Da der Mann offensichtlich etwas gegen Menschen mit ausländischem Aussehen hatte, befürchtete ich, ihn mit meinem Einschreiten noch weiter zu provozieren. Aber ich konnte sein Verhalten auch nicht einfach so stehen lassen. Nachdem ich bezahlt hatte, habe ich den Mann, der um die 40 Jahre alt war, am Kaf­feeautomaten gesehen. Ich habe ihn gefragt, warum er das gemacht hat, ob er nicht gese­hen hat, wie aufgelöst die Frau war, und dass er sich vorstellen sollte, sie wäre seine Mutter. Er reagierte genervt, „Na, jetzt kommst du mir mit der Rassismus­-Keule, jetzt bin ich ein Nazi“, hat er gesagt. Anschließend führte er aber ein ruhiges Gespräch mit mir und versuchte, mir seine Anschauung zu erläutern. Wirklich ge­holfen hat das nicht. Er empfindet eine Ab­neigung gegenüber ausländisch aussehenden Menschen und sieht sie als Bedrohung. Diese Einstellung macht mir Angst.

Wo soll ich denn hin?

Ich habe selbst auch schon Ähnliches er­lebt. Neulich ist mir in Marburg auf dem Bürgersteig eine Frau im Rollstuhl entgegen­gekommen. Ich wollte für sie Platz machen. Plötzlich hat sie mich angeschrien, ich solle zurück in mein Scheißland gehen. Ich kam mir dumm vor, weil ich ihr auf dem schmalen Gehweg ausreichend Platz bieten wollte und sie gleichzeitig so boshaft war und versuchte, mich mit ihrem Rollstuhl zu überfahren. Egal wohin ich ging, sie steuerte auf mich zu, bis ich letztlich ausweichen musste, indem ich auf die Fahrbahn sprang. Ich war so wütend, am liebsten hätte ich ihr nachgeschrien: Wo soll ich denn hin? Ich bin in Deutschland ge­boren und mache nur Urlaub in der Türkei, weil wir dort Verwandte haben. Dort bin ich die Deutsche, hier die Türkin. So kann ich nir­gendwo ankommen.