„Wir schaffen den Umstieg nur durch mehr Angebot“

Im Interview spricht der Geschäftsführer des Nordhessischen Verkehrsverbundes, Steffen Müller, über innovative Pläne für die Zukunft von Bus & Bahn (ÖPNV) und die herausfordernden Bemühungen um die Finanzierung des laufenden Betriebs.

Interview – Steffen Müller

Herr Müller, lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft werfen. Fahren wir in 30 Jahren im Landkreis Kassel in öffentlichen autonomen Kapseln zum Einkaufen?

Ich sehe in der Zukunft durchaus autonome Fahrzeuge im öffentlichen Verkehr. Außerdem sind wir im ländlichen Raum in der Lage, ein ebenso dichtes Angebot des öffentlichen Verkehrs zu realisieren, wie wir es heute in urbanen Räumen haben. Dass wir jedoch ganz auf autonomes Fahren setzen, bezweifle ich. Ich denke, aus Gründen der Sicherheit, Information und Kommunikation werden uns Fahrer oder mindestens Begleiter in den Fahrzeugen erhalten bleiben.

Zurück aus der Zukunft ins Heute. Vor welchen Herausforderungen steht der NVV?

Einerseits haben wir spannende Ideen und ehrgeizige Pläne – erneuerbare Energien nutzen, alternative Antriebe einführen, Digitalisierung ausweiten, ein verdichtetes Angebot schaffen, neue Verkehre auf Abruf (on demand) anbieten. All das wollen Politik und Gesellschaft umsetzen, am liebsten sofort. Wir wollen das auch. Aber wir kämpfen auf der anderen Seite jeden Tag um die Finanzierung unseres laufenden Betriebes. Corona hat uns finanziell hart auf dem Boden aufschlagen lassen. Wir haben immer noch zehn bis 15 Prozent geringere Einnahmen als vor der Corona-Pandemie. Außerdem operieren wir vor dem Hintergrund stark steigender Preise, was sich leicht am Beispiel des Energiekostenanstiegs nachvollziehen lässt.

Das bedeutet, mit besserer Finanzausstattung ist der ÖPNV der Zukunft gesichert?

Es geht bei uns natürlich nicht nur ums Geld. Die Verkehrsverbünde gehören zum großen Strauß dessen, was der Staat aus Bund, Land und Kommune für seine Bürger zur Verfügung stellt, weil Mobilität ein Grundrecht ist. Wir als NVV sichern die mobile Daseinsvorsorge in Nordhessen. Doch auch neue Ideen für den öffentlichen Verkehr müssen sich mit der Frage der Betriebswirtschaftlichkeit auseinandersetzen und Angebote schaffen, die viele Menschen nutzen. Das, was im komprimierten urbanen Raum funktioniert, zum Beispiel Carsharing, ist auf dem Land, wo es weniger Nutzer gibt, nicht wirtschaftlich.

Können digitale Angebote auf Abruf die Menschen auf dem Land für den ÖPNV gewinnen?

Bislang spielen Angebote auf Abruf bei uns eine untergeordnete Rolle. Die Nutzungszahlen liegen bei unter 1 Prozent. Dafür kostet ein solches Angebot aber das 5- bis 10-Fache des herkömmlichen ÖPNV im Vergleich zur Nutzerzahl. Der Staat kann nicht jeden Mobilitätswunsch von Tür zu Tür bedienen. Deswegen werden wir auch immer Strukturen haben, wo Menschen zusammenkommen und sich ein Fahrzeug teilen. On Demand wird aber im richtigen Verhältnis das bestehende Angebot sinnvoll ergänzen und gleichzeitig die Beschleunigung von Buslinien gewährleisten. Daher werden wir auch auf On-Demand-Angebote im richtigen Verhältnis setzen.

Wie wollen Sie dann die Menschen in Nordhessen als Kunden gewinnen?

Unser größter Konkurrent ist das Auto. Es ist zu jeder Zeit verfügbar und steht vor der Tür. Wir haben im ländlichen Raum genügend Platz zum Parken und mit der Zulassung von immer mehr Elektroautos fahren die Menschen sogar scheinbar mit reinem Ökogewissen. Dagegen eine Alternative zu bieten, ist im Autoland Deutschland nicht einfach. Doch davon dürfen wir uns nicht entmutigen lassen. Wenn wir Menschen für den ÖPNV gewinnen wollen, müssen wir unser Angebot ausbauen. Der NVV hat seit seiner Gründung so viele Bahnhöfe saniert, Strecken reaktiviert, kleine Städtchen zu Knotenpunkten gemacht, zentrale Omnibusbahnhöfe saniert, zusätzliche Bus- und Bahnverkehre geschaffen und digitale Systeme in die Fläche gebracht. Für mich ist das aktive Daseinsvorsorge und auch Demokratieförderung. Deshalb verspreche ich den Menschen in Nordhessen, dass der NVV sein Angebot weiter ausbauen wird. So zeigen wir ihnen: Hey, ihr wohnt auf dem Dorf, aber ihr seid auch wichtig und wir bieten euch gute Mobilität an.

Sollte die Politik Innenstädte für Autofahrer unattraktiv gestalten?

Die Innenstädte sollten Schritt für Schritt vor dem überhandnehmenden Individualverkehr geschützt werden. Doch nicht nur Verbote sollten das Verhalten regeln, sondern auch kluge Ideen. Warum ist das Parkticket nicht gleichzeitig ein ÖPNVTicket für die Innenstadt? Mit Flexibilität werden wir vorankommen. Darum ist der NVV auch gemeinsam mit dem RMV für Hessen in der Initiative Mobility inside aktiv.

Was kann das Land Hessen für den NVV tun?

Wenn wir über Zukunftsvisionen reden, muss zunächst allen klar sein, dass der ÖPNV bereits heute unterfinanziert ist. Um die hohen Erwartungen, die an uns gestellt werden, erfüllen zu können, müssen Bund und Land die Mittel erhöhen und verstetigen. Das Land Hessen unterstützt den ÖPNV bisher mit gerade mal 3 % Eigenmitteln für die Gesamtfinanzierung von NVV, RMV und VRN. Das ist ausbaufähig, würde ich mal sagen. Außerdem muss die Bevorteilung des Verkehrsmittels Auto aufhören. Ein Beispiel sind die Vorteile bei der Dienstwagenbesteuerung.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Kurzfristig wünsche ich mir mehr Personal in öffentlichen Fahrzeugen, um das Sicherheitsgefühl zu verbessern. Langfristig wünsche ich mir, dass der Ausbau unseres Angebots und notwendige technische Erneuerungen durch gesicherte Planung und Finanzierung möglich werden. Außerdem muss geplanter Streckenausbau schneller umsetzbar sein. Für eine Balance der Verhältnisse zwischen Stadt und Land wünsche ich mir, dass wir endlich wegkommen vom passiven, mitleidigen Blick auf den ländlichen Raum. Die Infrastruktur auf dem Land muss erhalten und ausgebaut werden. Wir haben genug Geld dafür in Deutschland. Der Staat muss es in die Hand nehmen.

Aufgezeichnet von Christina Schäfer

 

Steffen Müller ist seit 2019 Geschäftsführer des Nordhessischen Verkehrsverbundes (NVV). Er wurde 1978 in Kassel geboren und wuchs im ländlichen Raum Nordhessens auf. Nach seinem Soziologiestudium in Marburg führte ihn sein erster Job zum NVV. Nach beruflichen Stationen in der Landeshauptstadt Wiesbaden zog es ihn 2009 wieder zurück nach Nordhessen zum NVV. Er ist verheiratet und hat eine Tochter.

Christina Schäfer ist Referentin für Öffentlichkeitsarbeit und Publikationen der SPD-Fraktion im Hessischen Landtag.