
Der SPD-Landes- und Fraktionsvorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel hat Ministerpräsident Bouffier vorgeworfen, durch sein aktives Eingreifen das Risiko bei der rechtswidrigen Abschaltung des AKW Biblis für die im Raum stehende Schadensersatzforderung leichtsinnig in Kauf genommen zu haben. Die Schadensersatzklage von RWE in Höhe von 235 Millionen Euro war vermeidbar. Die Landesregierung in Person der früheren Umweltministerin Puttrich und von Ministerpräsident Bouffier handelte zumindest fahrlässig. Die Stilllegungsanordnung war rechtswidrig, RWE hätte angehört werden müssen. Zudem wurde eine unzutreffende Rechtsgrundlage für die Anordnung herangezogen. Die SPD-Landtagsfraktion hatte 2011 zur rechtlichen Klarstellung, und um Schaden vom Land abzuwenden, ein Abschaltgesetz gefordert. Das wurde damals von Schwarz-Gelb abgelehnt, sagte Schäfer-Gümbel am Mittwoch in Wiesbaden.
Bei der Erstellung der Stilllegungsanordnung riet die Fachabteilung des hessischen Umweltministeriums der damaligen Hausspitze ab, auf eine Anhörung von RWE zu verzichten. Die Fachleute hielten eine Stilllegungsanordnung ohne Anhörung für rechtlich nicht haltbar. Doch Umweltmisterin Puttrich habe stattdessen die für Atomfragen zuständige Fachabteilung von der Mitarbeit abgezogen und die die Stilllegungsanordnung mit den fachfremden Mitarbeitern Ihres Ministerinnenbüros bearbeitet. Die Fachabteilung war der Auffassung, dass die vorgesehene Rechtsgrundlage für die Stilllegungsanordnung falsch sei. Die Abteilung sei mit diesem Vorgang zur reinen Schreibstube beziehungsweise zum qualifizierten Schreibbüro degradiert worden.
Es gab genug Warnungen: Aus dem Justizministerium wurden frühzeitig erhebliche Bedenken geltend gemacht, ob der richtige Paragraph des Atomgesetzes für das Moratorium zugrunde gelegt wurde. Es wurde angeraten, zur Vermeidung einer etwaigen Schadensersatzpflicht des Landes zu versuchen, ein Einvernehmen mit den Betreibern, also RWE, herzustellen. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass die Anhörung von RWE auch noch im laufenden Verfahren nachgeholt werden kann. Es wurde darauf hingewiesen, dass ein Verzicht auf die im Regelfall gebotene Anhörung sehr zweifelhaft und die alleinige Kenntnis aus den Medien nicht ausreichend sei. Wäre dem Vermerk des Justizministeriums gefolgt worden, wäre Hessen heute aus dem Schneider. Stattdessen wurde der Vermerk im Umweltministerium weggeworfen. Ministerpräsident Bouffier war in den Schriftverkehr zur Stilllegungsanordnung zwischen Staatskanzlei und den Ministerien eingebunden und hat sich aktiv beteiligt. Er hat sogar Änderungen an Formulierungen vorgenommen und vornehmen lassen, so der SPD-Fraktionsvorsitzende.
Mit einem von RWE bestellten Schreiben habe Herr Bouffier dem Energieversorgungsunternehmen die alles entscheidende Waffe in die Hand gegeben: Am 13. Juni 2011 drohte er gegenüber dem Vorstandsvorsitzenden von RWE, das Wiederanfahren von Biblis von der Atomaufsicht untersagen zu lassen, und lieferte RWE damit die juristische Munition für die Schadenersatzklage. Einige Tage zuvor hatte der RWE-Vorstandsvorsitzende schriftlich angefragt, wann er denn mit genau diesem Brief rechnen könne, Kanzleramtsminister Pofalla habe ihm diesen angekündigt. Hier darf nun mit Fug und Recht gefragt werden, ob es sich bei diesem Possenspiel um Kumpanei handelte, um RWE am Ende wegen des Kurswechsels nach der Fukushima-Katastrophe vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg schadlos zu stellen, oder ob Herr Bouffier der Energiewirtschaft auf den Leim gegangen war, sagte Schäfer-Gümbel.
Jedenfalls habe das genannte Schreiben des Ministerpräsidenten entgegen aller Beteuerungen von Schwarz-Grün und der amtierende Landesregierung sehr wohl rechtliche Relevanz. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof nämlich führte den Brief in seinen Entscheidungsgründen zu den Zwischenurteilen vom 04. Juli 2012 auf.
Die verzweifelte CDU-Verteidigungsstrategie im Untersuchungsausschuss, Hessen habe nur im Auftrag des Bundes gehandelt, sei Makulatur: Schon jetzt sei klar, dass Herr Bouffier mindestens an zwei Stellen persönlich eingebunden war, indem er selbst die Abschaltanordnung hat ändern lassen und indem er RWE in einem Schreiben mit atomrechtlichen Schritten gedroht hat. Eine atomrechtliche Weisung des Bundes hat es hingegen nicht gegeben.
Das Schreiben des Ministerpräsidenten hat die Tür für Schadensersatzforderungen weiter geöffnet. Sollte Hessen 235 Millionen Euro oder sogar mehr an RWE für den durch das politische Fehlverhalten entstandenen Schaden zahlen müssen, tragen dafür die frühere Umweltministerin Puttrich und Ministerpräsident Bouffier die Verantwortung, so Schäfer-Gümbel.