Heike Habermann (SPD): Ganztagsschulprogramm ist und bleibt ein Etikettenschwindel

Diese Äußerung verdeutlicht, wo der grundlegende Unterschied zwischen Ihrem und unserem Verständnis von der Bedeutung von Ganztagsschulen liegt. Sie sehen die über den Unterricht hinausgehende Zeit, die Kinder an der Schule verbringen, primär als Maßnahme zur Entlastung von Familien. Auch für die SPD ist ein Aspekt von Ganztagsschule der Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Darüber hinaus wollen wir aber mehr Ganztagsschulen, um ernst zu machen mit dem Prinzip der individuellen Förderung. Mehr Zeit zum Lernen bedeutet, dass Lehrkräfte sich einstellen können auf das unterschiedliche Lerntempo von Kindern. Sie können Angebote entwickeln, die sich am Lern- und Leistungsstand ihrer Schüler orientieren und einen Wechsel zwischen Förderung, Lernen und Erholung zulassen. Schule wird zum Lebensraum, in dem Kinder zusammen mit dem Unterrichtsstoff soziale Kompetenzen erwerben und üben können, aber auch Fertigkeiten und Talente entwickeln können, die nicht auf der Stundentafel abgebildet sind. Ganztagsschulen können ein Baustein sein, um die Abhängigkeit zwischen Bildungserfolg und Herkunft abzuschwächen – wenn man ihnen die Chance und die Ressourcen gibt, ihre Konzepte zu entwickeln und umzusetzen. Und genau das hat diese Landesregierung bis heute nicht getan.

Wenn Sie jedes Mal argumentieren, dass die Zahl der Ganztagsschulen in den letzten Regierungsjahren nicht gestiegen, dann ist dies zwar eine Tatsache. Aber Sie verschweigen dabei, Ihre eigene ablehnende Haltung zu erwähnen. Kartmann 28.2.96: „Der neueste Gag von Minister Holzapfel ist die Schulen von 9.00 Uhr bis 15.30 Uhr. Dieser Vorschlag hat nichts aber auch gar nichts mit der Schule der Zukunft oder einem vorhandenen Bedarf oder sonstigen pädagogischen Notwendigkeiten … zu tun. Das ist schlichtweg ein rotgrüner Luftballon.“ Diese Einschätzung des damaligen bildungspolitischen CDU-Sprechers verdeutlicht, die Unfähigkeit der hessischen CDU, sich aus ihrem ideologischen Korsett zu befreien.

Gehandelt haben Sie kurz vor der Landtagswahl 2003 nicht, weil ein Umdenken in der CDU eingesetzt hatte, gehandelt haben Sie, weil die Entwicklung von Ganztagsschulen erkennbar ein Anliegen der Eltern, der Schulen und der Wirtschaft war. Sie sind auf einen fahrenden Zug aufgesprungen und haben gleichzeitig wieder die Notbremse betätigt. Sie haben ein Alibiprogramm auf den Weg gebracht, weil Sie bemerkt haben, dass die gesellschaftspolitische Entwicklung wie so oft an Ihnen vorbeigegangen war.

Bis heute ist dieses Ganztagsschulprogramm ein riesiger Etikettenschwindel geblieben. Es ist ungeeignet, eine bedarfsgerechte Entwicklung von Ganztagsschulen in Hessen zu fördern, da erforderliche Ressourcen nicht in ausreichendem Maß zur Erfügung gestellt werden. Schon zu Beginn des Programms wurden im Schuljahr 2003/2004 111 Anträge hessischer Schulen auf Aufnahme in das Landesprogramm abgelehnt. Mit dem groß angekündigten Dreijahresprogramm hat sich die Landesregierung der Verantwortung entledigt, die wachsende Zahl der Anträge selbst abzulehnen und sich damit  den Ärger der Schulen aufzubürden.

Durch die Beschränkung der Landesförderung auf die Einrichtung pädagogischer Mittagsbetreuung haben die Schulen keine Chance, bestehende Angebote weiterzuentwickeln. Es ist bezeichnend, dass von den 406 als ganztägig arbeitend ausgewiesenen Schulen 302 eine pädagogische Mittagsbetreuung haben. Die 104 Ganztagsschulen dagegen, die in offener oder gebundener Form arbeiten, wurden fast ausschließlich vor 1999 eingerichtet und genehmigt.

Viele Schulen haben inzwischen eigene Konzepte entwickelt und wünschen sich ein Signal, dass eine Umsetzung auch von der Landesregierung entsprechend gefördert wird. Wenn Sie diesen Schulen die notwendigen Ressourcen zur Weiterentwicklung angeboten hätten, wäre die Vision des Ministerpräsidenten eines flächendeckenden Angebots bis 2015 heute etwas mehr als eine wohlfeile Worthülse. Wir wollen ein Konzept von Ihnen, wie das vollmundige Versprechen des Ministerpräsidenten in die Realität umgesetzt werden soll.

Es wird Ihnen nicht gelingen, durch wolkige Aussagen und Erfolgsmeldungen darüber hinwegzutäuschen, dass Ganztagsschule in Hessen ein Stiefkind ist. Sie wollen einen Begriff besetzen, aber nichts für die Realisierung zu tun. So wie ein guter Zauberkünstler eine virtuelle Realität schafft, um sein Publikum zu täuschen, wollen Sie eine Ganztagsschullandschaft vorgaukeln, die nicht existiert.

Aber Sie sind nicht David Copperfield, Frau Kultusministerin. Wo er Applaus für seine Illusionen bekommt, werden Sie nur Buhrufe ernten. Die Politik der Ankündigungen und Rückschritte funktioniert nicht mehr. Die Eltern und Schulen in Hessen wollen keine virtuelle Bildungspolitik, sie wollen eine Bildungspolitik, die dort investiert, wo es am notwendigsten ist: für gleiche Chancen beim Zugang zu Bildung, für Lernsituationen, die vom Kind ausgehen. Ganztagsschulen sind ein Beitrag dazu. Wir brauchen ein Programm, das Schulen die Entscheidung offen lässt, wie ihre Schule der Zukunft aussieht.“