Ob der notwendige kritische Dialog in Hessen zwischen den Parteien gelingt, ob ein Grundkonsens über die richtigen Antworten auf PISA gefunden werden kann, werden die Beratungen zum Schulgesetz zeigen. Basis eines solchen Grundkonsenses ist die notwendige Verständigung über Inhalte und Ziele dessen, was wir unter Qualitätsentwicklung verstehen. Ich will vier Qualitätskriterien nennen, an Hand derer wir die Fortschritte hessischer Bildungs- und Schulpolitik messen wollen:
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1.Wir müssen die Quote derjenigen senken, die nach der PISA-Studie zur sogenannten Risikogruppe zählen. Wenn nahezu 23 Prozent unserer 15-jährigen in Deutschland nicht richtig lesen und damit Texte nicht richtig verstehen können, wenn damit die notwendige Voraussetzung fehlt, um auch in anderen Fächern erfolgreich mitarbeiten zu können, dann sind auch die grundlegenden Kompetenzen häufig nicht gegeben, um erfolgreich eine berufliche Ausbildung zu durchlaufen. Wir dürfen nicht zulassen, dass eine solch große Gruppe von Bildungsverlierern ohne die notwendigen Startchancen für ein selbstbestimmtes und in eigener Verantwortung gestaltetes Leben aus unseren Schulen entlassen wird.
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2.Wir brauchen eine höhere Bildungsbeteiligung. Diese Gesellschaft und dieser Staat sind darauf angewiesen, dass möglichst viele mittlere und höhere Bildungsabschlüsse erzielen. Wir brauchen eine höhere Akademikerquote, wenn wir den Bedarf einer modernen Informations- und Wissensgesellschaft in Zukunft befriedigen wollen. Wir brauchen mehr Ingenieure, mehr Techniker, qualifizierte Facharbeiter, welche die gesellschaftliche Innovation in der Konkurrenz mit anderen Standorten erfolgreich gestalten sollen.
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3.PISA hat es uns ins Stammbuch geschrieben, dass die Förderung der Chancengleichheit auf der Tagesordnung bleiben muss. In keinem anderen Land gibt es einen so engen Zusammenhang zwischen dem sozialen Milieu des einzelnen Schülers und dem Bildungserfolg. In keinem anderen Land ist der sozioökonomische Status der Eltern so eng verknüpft mit der Wahl von Schulformen und davon ausgehend mit dem erfolgreichen Abschluss von schulischen Bildungsgängen. Wir sind nicht in der Lage, das Leistungspotenzial vieler Schülerinnen und Schüler aus bildungsferneren Schichten zu erschließen, obwohl Intelligenztests zeigen, dass eine große Anzahl dieser Schülerinnen und Schüler gleiches leisten kann, wie diejenigen, die aus sozial begünstigten Milieus in höheren Bildungsgängen zu erfolgreichen Abschlüssen kommen.
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4.Wir brauchen insgesamt eine Steigerung des Leistungsniveaus. Auch hier zeigt PISA an Beispielen anderer Länder, dass es sehr wohl möglich ist, ein hohes Durchschnittsniveau zu erzielen, eine breite Spitze von Leistungen zu fördern und dass gleichzeitig der Abstand zwischen den besten und den schwächsten Schülerinnen und Schüler viel geringer ausfällt, als dies in Deutschland der Fall ist. Unser Schulsystem produziert offensichtlich relativ Wenige, die in der Spitze mit anderen Gleichaltrigen aus anderen Staaten mithalten können. Wir sind im Durchschnitt aber deutlich schwächer, und das besonders schockierende Ergebnis: Wir haben die größte Gruppe von Bildungsverlierern.
Wenn wir uns verständigen können, dass diese vier Maßstäbe der Qualitätsentwicklung Grundlage für die Bildungs- und Schulpolitik in den nächsten Jahren sein müssen, dann lohnt es sich kräftig zu streiten, welche Wege und welche Maßnahmen die Richtigen sind, um diese Ziele zu erreichen. Lernen wir dabei von erfolgreichen Ländern. Schauen wir auf die wissenschaftliche Beurteilung von PISA und stützen uns dabei auf empirische Analysen und Studien. Betrachten wir in diesem Lichte nun aber auch einzelne zentrale Maßnahmen, welche die schwarz-gelbe Regierung im Schulgesetz novellieren will.
Ich komme erstens zur Förderung der Sprachkompetenz. Wir sind uns im Ziel einig: frühe sprachliche Förderung aller Schülerinnen und Schüler, besonders derjenigen mit Migrationshintergrund. Aber es gibt auch erhebliche sprachliche Defizite von Kindern aus sozial schwierigen Verhältnissen, wo offensichtlich die sprachliche Kompetenz ebenfalls nicht genügend ausgeprägt ist, um in der Schule erfolgreich mitzuarbeiten. Wenn das so ist, dann macht es allerdings keinen Sinn, dass Schülerinnen und Schüler zurückgestellt werden von der Schule, dass man eine Bringschuld der Eltern festschreibt und nicht umgekehrt Maßnahmen in der Schule und durch die Schule vorsieht, um die Defizite dieser Kinder aufzufangen. Prof. Dr. Klemm hat in der Anhörung dazu ausgeführt, ich zitiere: "Indem die Schule zumindest partiell aus der Verantwortung für den Spracherwerb erlassen wird, wandelt sich das Prinzip der Schulpflicht nach der Unterrichtspflicht zurück. Der historische Fortschritt in der Weimarer Verfassung, den die Einführung der Schulpflicht gebracht hat, wird für Kinder mit Migrationshintergrund in einem wesentlichen Zeitabschnitt ihres Lebens wieder aufgegeben." Die Anhörung hat übereinstimmend gezeigt, dass das Ziel richtig ist, frühe sprachliche Förderung zu organisieren, um in der Schule erfolgreich mitzuarbeiten. Genauso einstimmig war auch die Kritik, dass die Möglichkeit der Zurückstellung pädagogisch völlig unsinnig ist.
Die FDP befindet sich in einem delikaten Widerspruch. Ich bin gespannt, wie weit die Liberalität bei solchen grundsätzlichen Widersprüchen strapaziert werden kann. Einerseits Ihre Forderung nach einer Kinderschule für alle, andererseits möglicherweise die Zustimmung zu einem Gesetz, das genau das Gegenteil vorsieht und Schulpflichtige wieder nach Hause schickt. Dieser politische Spagat muss selbst die Dehnfähigkeit geübter Liberalen überfordern.
Eine zweite Tendenz in der Novelle des Schulgesetzes steht ebenfalls diametral zu den Erkenntnissen aus PISA: Das deutsche Schulsystem ist durch besonders intensive Maßnahmen der Segregation bzw. der frühen Sortierung von Kindern in verschiedene Bildungsgänge gekennzeichnet. Die erfolgreichen Länder bei PISA, egal ob im skandinavischen Bereich, im anglo-amerikanischen Bereich oder auch unsere westeuropäischen Nachbarn haben alle integrative Schulsysteme in der Regel bis zum 9. Schuljahr. Aber gleichzeitig auch gezielte äußere und innere Differenzierungen zur Individualisierung von Lernprozessen, zur intensiven Förderung von einzelnen besonderen Begabungen und zu unterstützenden Maßnahmen bei Schülern mit Defiziten.
Angesichts dieser Ergebnisse muss gefragt werden, ob ihre weiteren Veränderungen z.B. in der Grundschule die richtigen Antworten geben für die individuelle Leistungsentwicklung von Schülerinnen und Schülern. Die Nichtversetzung von Jahrgangsstufe 1 in Jahrgangsstufe 2 soll nunmehr in die Hand der Schule gegeben werden. Die Notengebung für die Fremdsprache wird vorgesehen. Davon wird das Gutachten für die weiterführende Schule entscheidend geprägt werden.
Ich erinnere daran, dass der Bildungsauftrag der Grundschule bereits verändert wurde als vorbereitende Schule für die Sekundarstufe I, dass die Notengebung ab Ende der Jahrgangsstufe 2 wieder eingeführt und vieles mehr. Andere Länder gehen offensichtlich erfolgreicher andere Wege. Auch bei unseren Schulen in freier Trägerschaft gibt es eine spätere Notengebung, gibt es auch keine Nichtversetzungen. Offensichtlich ohne dass deshalb die Leistungen darunter leiden, ganz im Gegenteil. Offensichtlich erzielen die anderen Länder mit viel mehr Erfolg bessere Leistungen für alle Schüler. PISA legt signifikant dar , dass dort die Guten mindestens genauso gefördert werden, dass aber die schwächeren Schülerinnen und Schüler deutlich profitieren.
Hier zeigt sich der gravierende Unterschied zwischen dem konservativen Ansatz im Verständnis von Qualität von Schule zu unserem Ansatz. Wir sprechen eben nicht von Qualitätssteigerung, wenn wir mehr Schulabsteiger haben, wenn wir mehr Schulversager haben, wenn die Quote derjenigen, die nicht versetzt werden, steigt. Qualität von Schule muss genau das Gegenteil bedeuten, dass es uns gelingt, möglichst alle Schülerinnen und Schüler besser zu qualifizieren, dass es gelingt, die Quote der Schulversager möglichst gegen Null zu führen und dass es umgekehrt gelingt, die Quote der mittleren und höheren Bildungsabschlüsse deutlich zu erhöhen.
Ich darf im letzten Teil noch auf die Gesetzesänderung eingehen, die Schulträger zu verpflichten, ab Jahrgang 5 schulformbezogene Angebote wohnortnah vorzuhalten. Dies ist einmal ein Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung. Dies ist auch eine Maßnahme, die gegen das Votum der Einzelschulen und deren Schulkonferenzen verstößt. Dies ist aber angesichts der Ergebnisse von PISA offensichtlich völlig ungeeignet unsere Schulen qualitativ weiter zu entwickeln. Nein, ich werde keine Debatte Integrierte Gesamtschulen contra gegliedertes Schulsystem führen. Diese Schulstrukturdebatte in dieser Form wird von uns aus nicht geführt, allerdings wird sie uns durch ihr Gesetzesvorhaben aufgenötigt. Wir halten es für völlig falsch, funktionierende und erfolgreich arbeitende integrative Schulsysteme zu zerstören. Gerade angesichts der Ergebnisse von PISA, die deutlich machen, dass integrierte Systeme offensichtlich erfolgreicher arbeiten können, als das Schulsystem, das auf frühe Separierung und Sortierung der Schüler in verschiedene Schulformen setzt.
Prof. Tillmann, Mitglied des PISA-Konsortiums, formulierte kürzlich prägnant, das die dreigliedrigen Schulstrukturen in Deutschland offensichtlich das zentrale Problem darstellen, dass das frühe Sortieren in unterschiedliche Bildungsgänge offensichtlich der falsche Weg ist.
Wir sagen, dass wir nicht die Debatte der 70iger Jahre wiederbeleben wollen. Wir sagen aber auch, dass es unsinnig ist, funktionierende integrative Systeme zu zerschlagen. Offensichtlich bieten diese integrativen Schulformen gute Chancen für eine positive Weiterentwicklung. Deshalb sollten wir die Strukturen die vorhanden sind, nicht unnötig zerschlagen, sondern sie positiv weiter entwickeln.
Wir jedenfalls haben den notwendigen Reformbedarf unseres Bildungssystems ganz oben auf die Liste der wichtigsten politischen Themen gesetzt. Ich will dazu sieben Felder nennen, die zu bestellen sind und auf denen ich dringenden Reformbedarf sehe:
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1.Frühe Förderung aller Kinder, die gezielte Förderung besonders der Schwächeren, um soziale Benachteiligungen und sprachliche Defizite auszugleichen.
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2.Ausbau der Ganztagsangebote und der Ganztagsschulen mit entsprechend pädagogischen Konzepten.
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3.Aufbau einer Architektur des Ausbaus von Bildungschancen
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4.Stärkung der Einzelschulen in ihrer Selbstverantwortung und in ihren Gestaltungsmöglichkeiten
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5.Auflegen eines Katalogs von Maßnahmen zur Qualitätssicherung
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6.Reform der Lehrerausbildung und Revision des Lehrerleitbildes gemeinsam mit der Wissenschaft und gemeinsam mit Schulpraktikern
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7.Reform der Unterrichtsdidaktik und -methodik."