Fuhrmann: Ministerpräsident bei Sozialhilfe völlig inkompetent

"Wir reden hier heute über die Inkompetenz und das stufenweise Rückrudern des Ministerpräsidenten im Bereich der Sozialhilfe. Nach anfänglich vollmundigen marki-gen Worten zur Halbierung der Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger, sickerte stufenweise die Erkenntnis durch, dass dies alles nicht so neu ist, dass alles in Hessen bereits gemacht wird und dass das vollmundig verkündete Ziel viel zu hoch gesteckt ist – wie gesagt blanke Inkompetenz, Herr Ministerpräsident.

Sie sollten wirklich mal eine Hessenreise machen, statt sich ihre Ideen aus den USA oder Bayern zu holen oder "Schlossherrliche Empfänge" zu organisieren. Sie wissen nicht, was in Hessen los ist. Mein Fraktionsvorsitzender hat dazu mit 3 Dezernenten eine Pressekonferenz gemacht. Das waren 3 Beispiele – aber innovative Arbeits-markt- und Sozialpolitik wird in fast allen Kommunen gemacht. Im Gegensatz zum Land!

Sie konnte lernen, was die geltende Rechtslage bereits vorsieht: Dass nämlich nach §18 BSHG der Hilfesuchende sich um Arbeit bemühen muss, um seinen Lebensun-terhalt aus eigenen Kräften zu sichern. Sie konnten lernen, dass nach geltender Rechtslage niemand eine angebotene Stelle ablehnen kann, weil sie nicht der frühe-ren Qualifikation entspricht, ihr gegenüber minderwertig erscheint oder die Arbeits-bedingungen ungünstiger sind.

Sie konnten lernen, dass nach § 19 BSHG für Hilfesuchende, die keine Arbeit finden, Arbeitsgelegenheiten vorübergehender Art geschaffen werden können, um Ihnen eine Reintegration in die Arbeitswelt zu ermöglichen, und dass wer zumutbare Arbeit ablehnt, keinen Anspruch auf Sozialhilfe hat und in einem ersten Schritt die Hilfe um mindestens 25% gekürzt wird. (§ 25 BSHG).

Gehen Sie doch mal zu den Menschen in Hessen – zu den Alten, den Kranken oder den Behinderten. Gehen Sie doch zu den allein erziehenden Müttern, zu den Arbeits-losen, zu den Suchtkranken, in die soziale Brennpunkte.

Vielleicht würde Ihr Populismus und Zynismus wenigstens etwas gemildert. Diese Debatte ausgelöst durch das Sommerloch oder die Sommerhitze ist von viel Inkom-petenz geprägt. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie sie nutzen, um von Ihrem Schwarz-geldskandal und Ihrer Beteiligung daran ganz zynisch abzulenken.

Jetzt wollen wir uns mal sachlich mit Ihren Vorschlägen befassen: Ihr 1. Klassenziel lautete: Halbierung der Zahl der Sozialhilfeempfänger in Hessen. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen; Sammelunterkünfte für Arbeitsverweigerer, gemeinnützige Ar-beit von 7 – 8 Stunden für alle. Wer nicht arbeitet, soll sich auf ein sehr bescheidenes Leben einstellen – also Kürzung über Kürzung.

Gut "gebrüllt", aber offenbar inkompetent! Nur heiße Luft. Die Caritas rechnet es Ih-nen vor: Von den rund 2,8 Mio. Menschen, die 1999 Sozialhilfe bezogen, konnten fast 2 Mio. schlicht nicht arbeiten gehen, weil sie entweder noch minderjährig, häus-lich gebunden – ein Großteil unter ihnen sind Alleinerziehende -, schon in Rente, noch in Aus- oder Fortbildung oder aufgrund von Krankheit oder Behinderung nicht arbeitsfähig sind.

Das macht summa summarum 867.000 Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger, die dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung standen. Von diesen waren 655.000 arbeitslos gemeldet. Also wenn Sie die Zahl der Sozialhilfeempfänger hal-bieren wollen, aber nur 30% von ihnen überhaupt arbeitsfähig sind, dann heißt Ihr Vorschlag: Heimarbeit für Alte und Zeitungsaustragen für Kinder.

Also: 1. Klassenziel nicht zu erreichen. Flugs wird das – nicht erreichbare Ziel umde-finiert: Halbierung der Zahl der arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger! In Hessen be-ziehen knapp 234.000 Menschen Sozialhilfe, d.h. 3,9% der hessischen Bevölkerung. Der Bundesdurchschnitt liegt nebenbei bemerkt bei 3,3%. 140.300 dieser Menschen, was etwa 60% entspricht, sind im arbeitsfähigen Alter zwischen 15 und 65 Jahren. 15.000 davon arbeiten zwar, liegen mit ihrem Verdienst aber unterhalb der Sozialhil-fe. 78.800 (63%) werden von den Ämtern als nicht arbeitsfähig eingestuft.

Das bedeutet nicht etwa und nun rate ich Ihnen mir gut zuzuhören, Herr Ministerprä-sident, dass diese Menschen sich vor Arbeit drücken wollten, wie Sie es so gerne darstellen, sondern schlicht und ergreifend, dass ihre Lebensumstände eine geregel-te Beschäftigung nicht zulassen. Dazu zählen:
<br>
·Alleinerziehende, die keinen oder keinen bezahlbaren Betreuungsplatz für ihr Kind bzw. ihre Kinder finden, sowie Frauen und Männer, die ihre Familienangehö-rigen zu Hause pflegen. Ein Anteil von 30%, Herr Ministerpräsident, und – wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf – ihre Kinderbetreuungsoffensive wird daran mit Sicherheit nichts ändern.

Statt 100 Mio. Betriebskosten jährlich zu streichen, könnten Sie ja die Betreuung von Kleinkindern finanzieren. Und schon hätten viele Mütter die Chance, sich Arbeit zu suchen.
Aber es gibt noch andere, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen:
<br>
·Menschen, die krank, behindert oder berufsunfähig sind (16%).
<br>
·Hilfeempfänger/innen, die eine Aus-/Fortbildung durchlaufen (13 %),
<br>
·Menschen, die aufgrund einer besonderen sozialen Ausnahmesituation keine Ar-beit annehmen können. Betroffen hiervon sind immerhin rund 30.000 Menschen in Hessen.

Ich möchte bei dieser Gelegenheit besonders betonen, dass die vielen Alleinerzie-henden und (Familien-) Pflegekräfte unter den Sozialhilfebeziehern mit ihrer Arbeit wichtige Beiträge für unser Sozialsystem leisten. Diese als Faulenzer zu diffamieren, ist unerträglich

So hat ihr Parteifreund Böhr in Rheinland-Pfalz deutlich gemacht, Herr Koch, dass nicht die "Drückeberger" das eigentliche Problem sind, sondern vielmehr fehlende Arbeitsplätze. Dies hat im übrigen auch der Deutsche Städtetag in einer Umfrage zur "Kommunalen Beschäftigungsförderung" festgestellt – Ich zitiere -: "Der Grund hierfür liegt weder an fehlendem Interesse der Sozialhilfeempfänger zu arbeiten noch an mangelnder Initiative der Sozialhilfeträger, sondern daran, dass nicht ausreichend Arbeitsplätze für diesen Personenkreis zur Verfügung stehen."

Wir alle wissen, dass ein großer Teil der Arbeitsplätze für diese Menschen heute im wesentlichen von den Kommunen finanziert wird. Stocken Sie Arbeit statt Sozialhilfe auf und Sie haben mehr Beschäftigte und weniger Sozialhilfeempfänger.

Für Wisconsin wie für Hessen gilt: Die individuelle Betreuung von arbeitsfähigen So-zialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern ist schlichtweg nicht zum Nulltarif zu haben. Maßnahmen und Programme sind nun einmal teurer als Sozialhilfe. Wer also ernsthaft etwas ändern will, der muss auch sagen, woher er zusätzliche Mittel für Kinderbetreuung und Arbeitsmarktpolitik kommen sollen.

Sie haben Arbeit statt Sozialhilfe immer lautstark kritisiert – zu teuer! Aber das war genau der richtige Ansatz. Und mit einer Übergangsquote von 50% in den ersten Ar-beitsmarkt auch ein überaus erfolgreiches Programm. Sie lassen es auslaufen. Sie haben mit Ihrem vollmundigen Kombilohnprogramm – das die Kommunen zahlen müssen – ganze 75 Teilnehmer/innen in Hessen – ein absoluter Flop! Von einer be-sonders innovativen Arbeitsmarktpolitik des Landes kann wirklich keine Rede sein! Die können wir in den Kommunen beobachten!

Davon einmal abgesehen, lassen sich die Empfänger und Empfängerinnen von So-zialhilfe auch nicht alle so "mir nichts, dir nichts" über einen Kamm scheren, Herr Koch! Ich möchte an dieser Stelle zunächst einmal mit einem gängigen Klischee auf-räumen: Schon seit jeher geistert das Bild vom Sozialschmarotzer durch die Presse, der jahrelang glücklich und zufrieden auf Kosten des Staates lebt und sich dabei ins Fäustchen lacht. Das Gegenteil ist der Fall Die durchschnittliche Bezugsdauer be-trägt 2 1/2 Jahre, etwa 40% der Empfängerhaushalte sind sogar nur Kurzzeitbezie-her, das heißt wir sprechen hier de facto von maximal einem Jahr. Deshalb nennen Fachkreise Ihre Vorschläge einfach "realitätsfern" oder einen "durchsichtigen Profilie-rungsversuch" – völlig zu Recht, Herr Ministerpräsident! Heiße Luft!

Was ist die Konsequenz aus einer Debatte, in der Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen als faul und unnütz hingestellt werden? Das Ergebnis ist: Kinder schämen sich, dass sie von Sozialhilfe leben müssen.

Bereits jetzt ist die Zahl derjenigen, die aus falscher Scham auf Sozialhilfe verzich-ten, hoch. Man schätzt, dass 4 Milliarden Mark dadurch eingespart werden, dass Menschen unterhalb des Existenzminimums leben und keine Sozialhilfe beantragen.
Zur Erinnerung: Der geschätzte "Missbrauch" beträgt ca. 280 Mio.!

Ich zitiere: "Ein System zur Sicherung des Existenzminimums ist notwendig." – das meint zumindest der rheinland-pfälzische CDU-Landesvorsitzende Christoph Böhr. Er scheint einer der wenigen in der CDU zu sein, die das eigentliche Problem erkannt haben.

Es wird geschätzt, dass zwischen 1,5 und 5% sogenannte hoffnungslose Fälle sind! Damit wir uns nicht falsch verstehen. Missbrauch muss bekämpft werden und wird bekämpft, aber wer Sozialhilfe erhält, lebt nicht in Saus und Braus, oder liegt faul in der sozialen Hängematte!

Wir wollen – im Gegensatz zu Ihnen – keine Essensmarken und Armenküchen. Für die SPD hat Hans-Jochen Vogel auf dem Bundesparteitag ´99 gesagt: Das Men-schenbild des Berliner Programms ist kondensiert in dem Satz: "Die Würde des Menschen ist unabhängig von seiner Leistung und seiner Nützlichkeit." Denken Sie mal darüber nach!

Die SPD will durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik dazu beitragen, dass möglichst viele Menschen Arbeit finden! Wir wollen entsprechende Hilfen, individuelle Beratung und Fördermaßnahmen. Deshalb hat die SPD-Fraktion im Gegensatz zu den Regie-rungsfraktionen im Zuge der Haushaltsberatungen auch nachdrücklich eine Aufsto-ckung des ABM-Landesprogramms sowie zusätzliche Mittel für Langzeitarbeitslose gefordert. Sie haben das abgelehnt!

Und nun – nach ihren vollmundigen Ankündigungen und Drohungen: In 3 Jahren wurde in Wisconsin die Zahl der Sozialhilfeempfänger von ca. 14.000 auf 6.000 re-duziert. Dafür wurden 178 Mio. Dollar aufgewendet, das sind 400 Mio. Mark. In Hes-sen haben wir die zehnfache Zahl Sozialhilfeempfänger, d.h. wir brauchten 4 Mrd. DM pro Jahr in Hessen, um die Zahl der Hilfeempfänger zu halbieren.

Wo ist denn Ihr Antrag dazu? Das dürftige Fordern einer besseren Verzahnung von Arbeits- und Sozialämtern haben wir doch schon längst. Wir fordern von Ihnen Taten! Wo ist der Antrag zur Aufstockung der Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik? Wo der Antrag zur Übernahme der Kinderbetreuungskosten für Mütter und Väter? Wo? Wir wollen von Ihnen keine Luftblasen und zynische Drohungen. Wir fordern finan-zielle Hilfe für die Kommunen! Wir fordern Hilfe für die Menschen!"