"Warum greifen wir mit unserer Auftaktveranstaltung zum hessen forum das Thema Rechtsextremismus auf? Rechtsextremismus ist ein nach wie vor aktuelles Thema und nimmt an Brisanz zu. So haben die Gewalttaten mit vermutetem rechtsextremistischen Hintergrund um 33,8 % im Jahr 2000 im Vergleich zu 1999 zugenommen. Insgesamt ist die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten in Deutschland auf nahezu 16.000 gestiegen und hat damit eine Steigerung um 58,9 % erfahren.
Rechtsextremismus ist auch nicht etwa, wie oft dargestellt, nur ein ostdeutsches Problem, sondern ist eine gesellschaftliche Herausforderung, die genauso im Westen bewältigt werden muss. Möglicherweise unterscheiden sich die Ursachen in den neuen und in den alten Bundesländern. Hierzu werden wir heute abend Informationen aus der ersten Talkrunde erhalten.
Es sind aber nicht nur die rechtsextremistischen Straftaten, die uns heute beschäftigen, sondern mir ist es auch ein Anliegen, den Prozentanteil derer zu betrachten, die diese Taten gutheißen. Immer wieder wird in soziologischen Studien ein Prozentsatz zwischen 15 und 25 Prozent genannt. Insgesamt lässt sich aber an den von mir genannten Zahlen unschwer erkennen, dass es sich um ein gesellschaftlich bedeutsames Thema handelt. Es ist deshalb so bedeutsam, weil es maßgeblich den Frieden in unserem Zusammenleben bestimmt.
Im Rahmen des Zusammenwachsens von Europa und der zunehmenden Internationalisierung wird dieses Thema noch an Gewicht zunehmen.
Warum spüren wir Sozialdemokraten – insbesondere in Hessen – eine besondere Verantwortung zur Aufarbeitung des Themas "Rechtsextremismus"? Lassen Sie mich einen Blick in die Geschichte werfen. Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurden die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten durch die Sozialistengesetze unter Bismarck geächtet.
Unter dem Naziregime haben viele Mitglieder der SPD unter dem Terror gelitten, ihre Heimat verlassen und den Tod gefunden. Die Erfahrung des Ausgeschlossenseins, des Nichtdazugehörens, der Verfolgung wegen politischer Anschauung, haben die Sozialdemokraten als Erbe und soziologische Prägung mit auf den Weg bekommen.
So möchte ich beispielhaft auf das persönliche Schicksal eines zur Zeit des Naziregimes Andersdenkenden aufmerksam machen. Ich greife das Schicksal auf von Willi Birkelbach. Einige unter Ihnen werden ihn gut kennen, manche vielleicht gar nicht. Willi Birkelbach war Mitglied des Deutschen Bundestages für die SPD von 1949 bis 1964. Neben zahlreichen anderen Ämtern war er vor allen Dingen auch Chef der Staatskanzlei und Staatssekretär bei Georg August Zinn in der Zeit von 1964 bis 1969.
1934 entschied er sich zur Mitarbeit in der SAP. Seine Gegnerschaft gegen das Gewaltregime flog auf und Willi Birkelbach kam in Haft: "Die Wirklichkeit war fürchterlich. Ich brauchte viele Jahre, um loszukommen von Alpträumen, die mich immer wieder heimsuchten. Sie führten mich zurück in jene Welt, die ich am 10. Oktober 1938 mit der ersten Einlieferung in das Gefängnis betreten hatte. Die menschliche Vorstellungskraft reicht kaum aus, wenn man nachempfinden wollte, was in einem Menschen vorgeht, der seine persönliche Freiheit so plötzlich verloren hat, und sich mit all diesen schrecklichen Umständen auseinandersetzen muss. Man mag vorher noch so heldenhaft versucht haben, sich auf die Konsequenzen einzustellen, wenn man den bewussten Entschluss fasst in einer gegen die Nazidiktatur gerichteten illegalen Organisation mitzuarbeiten. Es gab Stunden, in denen der ganze Körper flatterte, einfach nicht zu kontrollieren war. Das passierte in den ersten Tagen oft, dann nur wieder in der Nacht nach der Urteilsverkündung und später unmittelbar vor dem Ablauf der vom Gericht zugemessenen zweieinhalbjährigen Zuchthausstrafe." (Zitat Birkelbach)
Was hatte Willi Birkelbach getan? Willi Birkelbach hatte sein politisches Engagement – nämlich Widerstand gegen die Gewaltherrschaft – in Form geistiger Auseinander-setzung im Untergrund fortgeführt. Deshalb wurde er im Dritten Reich wegen Vorbereitung zum Hochverrat zur Zuchthausstrafe verurteilt.
Er war also einer von denen, die nicht dazugehört haben, die ausgeschlossen waren und die wegen ihrer politischen Anschauung verfolgt wurden. Auf weitere Schicksale möchte ich gar nicht eingehen. Ich möchte Ihnen in Erinnerung rufen, dass sich auch aus diesen Erfahrungen heraus der klassische sozialdemokratische Wert der Solida-rität entwickelt hat.
Solidarität wie wir sie verstehen, bedeutet dies Akzeptanz der Vielfalt, die Akzeptanz der Andersdenkenden und das gemeinsame Angehen gegen Diskriminierung aller Orten und Solidarität für Jedermann.
Das Flüchtlingsthema wird überwiegend als Belastungsthema diskutiert. Ein Blick in die Geschichte Hessens belehrt uns eines Besseren: Georg August Zinn hat eine offensive Integrationspolitik für die zugewanderten Flüchtlinge angefasst. Jeder fünfte Hesse zu dieser Zeit war Flüchtling. Insgesamt hatte Zinn die Integration von 700.000 Kriegsflüchtlingen und Heimatvertriebenen zu bewältigen und es ist ihm erfolgreich gelungen.
Die Integrationspolitik Zinns, der gemeinsame Wille das Land Hessen wieder aufzu-bauen, hat den Wert "Toleranz" in Hessen ein historisches Gewicht verliehen. Hier wurde für die heutige Wirtschaftskraft Hessens der Grundstein gelegt.
Viele Menschen kamen als Flüchtlinge zu uns und sind zu tragenden Persönlichkeiten der hessischen Geschichte geworden. Diesen Einsichten, historischen Erfahrungen und Werten steht der Rechtsextremismus diametral entgegen.
Wir wollen heute Abend dazu beitragen, Erkenntnisse zu gewinnen, mögliche Vorurteile zu hinterfragen und damit den Feindseligkeiten dem anderen gegenüber den Boden zu entziehen. Denn eines ist sicher: Extremismus erwächst auch aus Unkenntnis.
Aufklärung und Information sind deshalb für uns zentrale Ansatzpunkte, dem rechts-extremistischen Gedankengut den Boden zu entziehen. Aus all diesen Gründen wünsche ich uns allen heute einen informationsreichen und spannenden Abend."