"Die Rahmenbedingungen für Schule ändern sich in unserer Gesellschaft dramatisch. Neue Fragestellungen und Herausforderungen an die Politik erfordern neue Antworten. Unser Ziel ist: Die Qualität von Schule verbessern. Auf dem Weg dorthin muss den Schulen geholfen werden, ihre Kompetenz für Unterricht und Erziehung weiter zu entwickeln.
Deswegen wollen wir Schulen aller Schulformen in die Lage versetzen, vermehrt Ganztagsangebote zu entwickeln und den Weg in Richtung Ganztagsschule zu gehen.
Wenn wir von Qualität der Bildung sprechen, muss klar sein, dass diese nicht allein an Nützlichkeit, Verwertbarkeit oder wirtschaftlichem Bedarf gemessen werden darf. Damit keine Missverständnisse auftauchen: Selbstverständlich hat Schule den Auftrag, Wissen zu vermitteln – Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen, Naturwissenschaften. Bildung ist aber mehr, nämlich mit dem Wissen etwas anfangen zu können und selbständig weiter denken und handeln zu können.
Gerade in der Zeit beschleunigten Wandels und schnell veraltenden Wissens müssen die Lernprozesse auch über fachliche Qualifikationen, wie Selbständigkeit, Teamfähigkeit und Kreativität angelegt werden. Dies gilt nicht nur für die künftigen Hochschulabsolventen, sondern gerade auch für die 70 Prozent, die gleich einen Beruf erlernen; denn die Berufsbildung steht an der Nahtstelle zur Arbeits- und Berufswelt unter besonderem Veränderungsdruck.
Es wird auf Dauer nicht möglich sein, all diese Anforderungen an Schule innerhalb des jetzigen Systems mit der 13.00 Uhr-Grenze umzusetzen.
Ganztagsschule bietet die Möglichkeit der Vertiefung des "Stoffes" in einzelnen Fächern oder Lernbereichen, fächerübergreifende Arbeitsgemeinschaften und erleichtert die Verwirklichung besonderer Unterrichtsformen wie beispielsweise die Projektarbeit.
In manchen Gymnasien hat jeder zweite Schüler außerschulischen Nachhilfeunterricht. Auch in den Grundschulen nimmt die außerschulische Förderung bei Lese- und Rechtschreibschwächen bis hin zu therapeutischen Maßnahmen zu. Nicht alle Eltern können sich dies leisten. Eine Verzahnung dieser außerschulischen Aktivitäten in den Unterricht ist daher auch ein Akt der sozialen Gerechtigkeit.
Besonders begabte Schülerinnen und Schüler können durch zusätzliche Angebote im Rahmen der Ganztagsschule besser als bisher gefördert werden. Chancengleichheit und Leistungsorientierung sind keine Gegensätze, sie gehören direkt zusammen. Die Förderung von Spitzenbegabungen widerspricht nicht der Chancengleichheit.
Eine Sonderschule für Spitzenbegabungen, wie von der CDU/FDP-Regierung vorgesehen, ist allerdings nicht die richtige Antwort. Wir müssen aufpassen, dass die vermeintlich Hochbegabten nicht in eine Sonderrolle hineindebattiert werden, Dank derer sie zwar nicht in dem ihnen angemessenen Unterricht landen, häufig aber dafür beim Schulpsychologen. Sie müssen in ihrem Umfeld integriert bleiben – so wie in ihrem späteren Leben auch – und besonders gefördert werden.
Dass schwächere Schülerinnen und Schüler individuell bei Ganztagsangeboten besser gefördert werden können, ist offensichtlich.
Unser Leistungs- und Bildungsbegriff geht von der Gleichwertigkeit, aber auch der Verschiedenartigkeit der Kinder und ihrer individuellen Möglichkeiten aus und hat das Erreichen ihres jeweiligen Leistungsoptimums zum Ziel. Die Chance unseres Landes liegt in der breiten Qualifikation aller Schülerinnen und Schüler.
Chancengleichheit und -gerechtigkeit war immer das Thema sozialdemokratischer hessischer Bildungspolitik. Landschulreform, Mittelpunktschulen, Förderstufen, Durchlässigkeit im gegliederten System sind nur einige Stichworte der Bildungsdiskussion. Der Zugang zu den neuen Medien wird ein weiteres Politikfeld zum Thema Chancengleichheit sein. Durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien ergeben sich zahlreiche neue Chancen. Es ist richtig und wichtig, Schulen entsprechend auszustatten. Die Unterrichtsformen und Inhalte müssen allerdings auch angepasst werden. Unabhängig von Herkunft und Einkommen der Eltern müssen gleiche Zugangschancen zu diesen neuen Technologien sichergestellt werden.
Ganztagsschule ist wichtig für Vereinbarkeit von Kindern und Beruf. Nicht erst seit der Shell-Jugend-Studie wissen wir: Rund 90 Prozent der jungen Menschen wollen Berufserfolg und Partner und Kinder (letzteres durchaus im Plural). Auf diese Wünsche müssen wir die passende Antwort geben und die heißt: Ganztagsschule.
Die Erfahrungen anderer Länder und auch der wenigen Ganztagsangebote in Deutschland zeigen: Mit der besseren Unterstützung der berufstätigen Mütter steigt die Geburtenrate deutlich.
Um es klar zu formulieren: Wir wollen, dass Ganztagsschulen angeboten werden. Dies ist also ein Angebot an die Eltern. Wenn sich eine Familie dafür entscheidet, dass ein Elternteil während der Kindererziehung auf eine außerhäusliche Berufstätigkeit verzichtet, dann ist das nicht nur zu akzeptieren, sondern – z.B. steuerpolitisch – zu fördern. Nach all dem, was wir wissen prognostiziere ich aber: die Nachfrage wird so groß sein, dass Schulträger und Land, dass wir alle in überschaubarer Zeit in allen Schulformen und -stufen flächendeckend Ganztagsschulen anbieten müssen. Alle Erfahrungen zeigen, dass bei einer Entzerrung des Schulalltages sich der Arbeitsplatz Schule verändern wird und die Arbeitszufriedenheit der Pädagoginnen und Pädagogen höher ist. Klar ist: Das Projekt kann nur mit und nicht gegen die Lehrerinnen und Lehrer realisiert werden.
Wir müssen einfach sehen: Jede dritte Frau des Jahrgangs 1965 wird kinderlos bleiben, das sind doppelt so viele wie beim Jahrgang 1950.
Ein anderer Aspekt: Die Hälfte der Kinder wächst ohne Geschwister auf – zugespitzt: Also nur mit Erwachsenen und dem Computer. Der Schule kommt also zunehmend die Bedeutung zu, dass Mitschülerinnen und Mitschüler zu "sozialen Geschwistern" werden. Die Ganztagsschule kann ganz gewiss mehr als die traditionelle Schule den Einzelkindern bei der Ausbildung ihrer sozialen Handlungsorientierung helfen, wie es im familiären Umfeld nicht der Fall sein kann.
15 Prozent aller Familien sind Ein-Eltern-Familien. In Hessen dürften es etwa 180.000 mit rund 230.000 Kindern sein (mit einem Zuwachs von deutlich über 30 Prozent in den letzten 10 Jahren). Diese alleinerziehenden Eltern – es sind meistens die Mütter – lässt diese Gesellschaft schlicht allein. In den meisten Fällen erhalten Mutter und Kind Sozialhilfe. Von den 2,9 Millionen Sozialhilfeempfängern in der Bundesrepublik sind 40 Prozent jünger als 18 Jahre.
Anderer Aspekt: Die älter werdende Gesellschaft wird schon bald alle Erwerbspotentiale benötigen. Ohne Gegensteuerung wird es nach Schätzung des statistischen Bundesamtes innerhalb einer Generation einen Rückgang von 10 Millionen Menschen in unserem Land geben. Bevor wird uns mit der – sicher notwendigen – Zuwanderung von Menschen aus anderen Ländern befassen, müssen erst einmal all diejenigen, die in unserem Land leben und arbeiten wollen, die Möglichkeit zur Berufsausübung bekommen.
Mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der Verbesserung der Rahmenbedingungen für junge Familien will ich keine Bevölkerungspolitik betreiben – sondern lediglich vorhandene Kinderwünsche möglich machen. Wir brauchen eine beherzte Politik, die zeigt: Kinder sind erwünscht.
Ein anderer Aspekt: Schon jetzt sind 16 Prozent aller hessischen Schülerinnen und Schüler Nichtdeutsche. Sie gehören über 150 Nationalitäten an. Fast 24 Prozent von ihnen verfügen über keinen Schulabschluss. Der Ausbildungsreport Hessen geht davon aus, dass der Anteil der Schulanfänger nichtdeutscher Herkunft bis zum Jahr 2010 auf 28 Prozent ansteigen wird. Hinzu kommen die Aussiedlerkinder. Wenn wir aber jetzt schon wissen, dass jedes dritte in diesem Jahr geborene Kind einen Migrationshintergrund – von Kasachstan bis zur Türkei – hat, wird deutlich: Integration ist eine der zentralen Aufgaben dieser Gesellschaft. Wo kann die denn besser erfolgen als in der Ganztagsschule!
Die Organisations- und Finanzstruktur einer solchen Ganztagsschule soll sich nach den konkreten Gegebenheiten richten. Schule, Jugendhilfe, Sozialbehörden, Vereine, Kirchen können bzw. sollten in ein individuelles Schulkonzept eingebunden werden. Damit ist klar, dass in Ganztagsschule nicht nur Lehrerinnen und Lehrer arbeiten werden. Ich weiß sehr wohl, dass insoweit der Begriff "Ganztagsschule" differenziert betrachtet werden muss. Hinter ihm verstecken sich unterschiedlichste Formen von Ganztagsangeboten. Dies erfordert weitgehende Stärkung der Selbstverwaltung und Selbstverantwortung der einzelnen Schule und damit genau das Gegenteil dessen, was die jetzige Regierung mit staatlicher Reglementierung umsetzt. Schulen müssen in die Lage versetzt werden, eigene Profile zu entwickeln.
Die Ganztagsschule ist die zentrale Herausforderung für die Landespolitik. Wir wollen, dass Hessen hier ganz vorn ist. Wir wissen, dass dies ein großer organisatorischer und vor allem auch finanzieller Kraftakt werden wird. Wir sind dazu bereit. Weil wir wissen, wenn wir aus arbeitsmarktpolitischen, wirtschaftspolitischen, familienpolitischen, frauenpolitischen, kurzum: gesellschaftspolitischen Gründen dieses Projekt nicht anpacken und entsprechend investieren und Zukunftsvorsorge betreiben, wird für diese unsere Gesellschaft alles noch viel teurer."